Magdeburg zur Zeit Otto von Guerickes
In der über 1200jährige Stadtgeschichte Magdeburgs haben sich kaum in einer anderen Zeit so viele Brüche vollzogen wie in der Zeit Otto von Guerickes (1602-1686). Um 1600 war Magdeburg eine der größten und bedeutendsten Städte des Reiches: Kaiserstadt Ottos des Großen, Hansestadt und vor allem eine der wichtigsten und am meisten umkämpfte Bastionen der Reformation. Als „Unseres Herrgotts Kanzlei“ war sie in ganz Europa berühmt, weil sie dem kaiserlichen Interim und sogar der militärischen Belagerung durch den sächsischen Kurfürsten Moritz getrotzt hatte. Damit stand Magdeburg in vorderster Linie der Konflikte der Zeit. Die Stadt war reich und mächtig als Handelsstadt, wirtschaftlicher, politischer und kultureller Mittelpunkt an der Mittelelbe. Zu ihrer deutschen und europäischen Bedeutung gehörte noch, dass sie Mittelpunkt der größten europäischen Stadtrechtsfamilie (Magdeburger Recht) war.
Magdeburg gehörte staatsrechtlich zum Erzstift Magdeburg, war dessen namensgebende Hauptstadt. Seit der Reformationszeit regierten Fürsten aus dem Hause Brandenburg das Erzstift als Erzbischöfe oder protestantische Administratoren. Der Kampf mit dem Landesherrn um die Unabhängigkeit, die Reichsfreiheit, währte schon seit Jahrhunderten. Dabei berief sich die Stadt auf Privilegien aus ottonischer Zeit, welche sie jedoch weder vor noch nach ihrer Zerstörung von 1631 nachweisen konnte. In den teilweise heftigen Auseinandersetzungen mit den Erzbischöfen bzw. den Landesherrn hatte die Stadt erhebliche Erfolge erreicht und wähnte sich dem Ziel der Reichsfreiheit nahe. Diese Überzeugung verstärkte sich dadurch, da vor allem protestantische Mächte Magdeburg faktisch wie eine reichsfreie Stadt behandelten und in Vertragssysteme einbanden. Die Einwohnerzahl der damals volkreichen Stadt wird für die Zeit vor der Zerstörung mit etwa 30 000 angenommen. Sie war damit eine der großen Städte des Reiches.
Magdeburg um 1600
Nach Beginn des Dreißigjährigen Krieges blieb Magdeburg zunächst von Kampfhandlungen unberührt. Deren Auswirkungen aber waren zu spüren durch wirtschaftliche Probleme und auch soziale Unruhen wie den „Kipper- und Wipperunruhen“. Die Stellung Magdeburgs als Handelsstadt wurde in dieser Zeit zunehmend von Hamburg in Frage gestellt und von der bedeutenden mitteldeutschen Stadt Leipzig, welche den Schutz und die Förderung des sächsischen Landesherrn genoss, bedroht. Mit den anderen Hansestädten versucht Magdeburg, gegenüber den Kriegsparteien eine neutrale Haltung einzunehmen. Das gelang der mitteldeutschen Metropole jedoch nur, so lange der Kriegsverlauf entfernte Regionen betraf.
Nach der Schlacht an der Dessauer Elbbrücke im Jahre 1626 hatte der Krieg endgültig Mitteldeutschland erfasst. Die Truppen des kaiserlichen Generals Wallenstein beherrschten den Mittelelberaum. Die Stadt Magdeburg aber widerstand allen Versuchen Wallensteins, sie unter seine Kontrolle zu bringen - einschließlich der förmlichen Belagerung. Erst im Herbst 1629 konnte sich Magdeburg wieder weitgehend aus der Bedrängung durch die kaiserlichen Heere befreien. Bis dahin jedoch waren der Stadt große Verluste durch die Unterbrechung ihres Handels und anderer wirtschaftlichen Tätigkeit entstanden. Zudem vertieften sich innerstädtische Konflikte, welche sich zu einer Verfassungskrise ausweiteten. Mit Hilfe der Hansestädte erhielt Magdeburg 1630 eine neue Stadtverfassung. Der alte Rat wurde gestürzt. Unter den wenigen Ratsherren, die auch dem neuen Rat angehörten, war Otto Gericke. Die Lage der Stadt Magdeburg verbesserte sich jedoch nicht, weil der andauernde Krieg Handel und Wandel behinderte oder ganz unterbrach. Gleichzeitig hatte der Kaiser 1629 mit dem Restitutionsedikt erwirkt, dass sein minderjähriger Sohn Leopold Wilhelm zum Erzbischof in Magdeburg eingesetzt werden sollte. Die Rekatholisierungsdrohung verstand man mit dem Selbstverständnis der protestantischsten aller protestantischen Städte als große Gefahr und war deshalb umso schneller bereit, mit dem schwedischen König Gustav Adolf, dem „Schutzherrn aller Protestanten“, ein Bündnis einzugehen. Dieser war 1630 mit seinem Heer auf der Insel Usedom gelandet. Im Jahre 1631 rückte der kaiserliche Feldherr Tilly vor die Stadt Magdeburg, begann sie einzuschließen und schließlich zu belagern. Gustav Adolf hatte zwar seinen Hofmarschall Falkenberg in die Stadt geschickt, der die Verteidigung organisierte, er selbst aber konnte in die Schlacht um Magdeburg nicht eingreifen. Am 10./20. Mai 1631 eroberten die kaiserlichen Truppen die Stadt. Die Wucht der Eroberung und ein verheerender Brand vernichteten eine der größten und volkreichsten Städte des Reiches. Die Katastrophe ist von Zeitgenossen mit dem Untergang Jerusalems und Trojas verglichen worden. Die „Magdeburger Bluthochzeit“ galt in ganz Europa lange Zeit als Sinnbild des Schreckens des Krieges schlechthin. Außer der Domkirche und wenigen Häusern an der Elbe war die Stadt eingeäschert. Nach Gerickes Zeugnis sind 20 000 Menschen ums Leben gekommen. Die Schweden zählten nach ihrem Einzug in die wüste Stadt im Jahre 1632 noch 449 Personen. Die über Jahrhunderte gewachsene Einwohnerschaft mit ihren geistigen, kulturellen, mentalen und anderen Identitäten und Traditionen war weitgehend verloren. Gleichzeitig aber war wegen der fast vollständigen Zerstörungen der Gebäude und Anlagen auch das materielle „Gesicht“ der Stadt bis auf sakrale Bauten, die entweder wie der Dom von der Zerstörung verschont blieben, oder später wieder aufgebaut werden konnten, nicht mehr existent. Die bis dahin mächtige Stadt Ottos des Großen, die Kaiserstadt, die herausgehobene Hansestadt, die wehrhafte Lutherstadt, die „Unseres Herrgotts Kanzlei“ genannt worden ist, hatte aufgehört zu bestehen. Die Bewohner der Stadt waren entweder getötet oder geflohen. Für die Stadtgeschichte Magdeburgs bedeutete die weitgehende Vernichtung der Stadt von 1631 nicht nur einen tiefen Bruch, sondern eine Existenzkrise.
Die Zerstörung Magdeburgs hatte die Stadt ihrer Möglichkeiten, bei der Entstehung einer neuen deutschen und europäischen Friedensordnung eine aktive und gestaltende Rolle zu spielen, beraubt. Die Stadt war darauf angewiesen, den Status quo ante oder gar ihre Reichsfreiheit mit schwedischer Hilfe zu erlangen.
In die wüste Stadt zurück kamen Angehörige der Oberschichten, die hier ihre Besitztümer und Privilegien wieder reaktivieren wollten. Darunter befand sich auch der Ratsherr Otto Gericke, der sich mit knapper Not aus der Stadt bei deren Untergang retten konnte. Im Jahre 1632 kam er als Ingenieur in schwedischen Diensten wieder nach Magdeburg. Von ihm stammt aus dem gleichen Jahr der berühmte Plan der Stadt als Grundlage des Wiederaufbaus. Der Wiederaufbau Magdeburgs kam wegen der anhaltenden Kriegssituation nur schleppend und unvollkommen in Gang. Mit dem Westfälischen Friedensschluss gelang der Stadt Magdeburg mit massiver schwedischer Hilfe ein diplomatischer Erfolg, indem ihre Privilegien und sogar ihre vermeintliche Reichsfreiheit - theoretisch und mit der Bedingung der Vorlage der entsprechenden Urkunden aus ottonischer Zeit - anerkannt worden sind. Die Vertretung der Stadt während der Friedensverhandlungen lag in den Händen des Ratsherrn Otto Gericke. Doch in dem Maße, wie der schwedische Einfluss im Reich sank, war die Realisierung der Reichsfreiheit der Stadt immer unwahrscheinlicher geworden. Vielmehr drängte Kurbrandenburg darauf, dass die Stadt als Landstadt des zu übernehmenden Landes Magdeburg („Herzogtum“) verbleibt. Im Jahre 1666 beendete der Brandenburger Kurfürst alle Pläne Magdeburgs, indem er ein Heer vor die Stadt rücken ließ und ultimativ die Eventualhuldigung verlangte. Die noch schwer zerstörte Stadt Magdeburg hatte keine Möglichkeit einer erfolgreichen Gegenwehr und fügte sich in den „Vergleich“ (Vertrag) vom Kloster Berge. Zwar war damit die Stadt dauerhaft aus einer Metropolitanstellung an der Mittelelbe zu einer Landstadt untergeordneter Bedeutung eines aufstrebenden deutschen Flächenstaates geworden, aber nach Lage der Dinge erhielt Magdeburg eine aussichtsreiche Perspektive als Teil eines starken Flächenstaates auch gegenüber der Hamburger und Leipziger Handelskonkurrenz. Vor allem aber wurde das Absinken in die völlige Bedeutungslosigkeit der Stadt nachhaltig verhindert.